Greta & Michel

Es ist unmöglich, durch Ansichten zur Wahrheit zu gelangen, denn jede Ansicht ist nur ein ver-rückter Blick auf die Wirklichkeit.

Emile Cioran: Gevierteilt

Greta stellt die Forderung, uns zu ändern. Sie ist der reine, kindliche, kalte Engel, der fordert und überwacht. Wegen der Reinheit unkritisierbar, der Kälte unbeirrbar, gibt ihr die Kindlichkeit den Anschein der Wahrheit. Sie ist der Schatten des Kindes, das über den nackten Kaiser lacht. Sie scheint Hoffnung zu verkörpern. Wäre sie ein schrecklicher Engel, hätte sie keine Zweifel an ihrem Tun. Sie wird sie haben und mit jedem Aufreißen des Mundes und Atmen und Redens wird sie gegen den Zweifel kämpfen.
Klammer(Vielleicht der Schatten des Kindes, der über sich selbst (die Schattenwerfende) lachen müßte)
Der Held aus Houllebecqs Serotonin ist ganz auf der Seite des Zweifels; die Depression hat ihn gepackt, aber was er tut (nachdem er versucht war, Gott zu sein), ist das einsamste, einzigste Tun eines Menschen (Heiligen?). Ohne Publikum, gäbe es den Leser, den Autor nicht.

Wiedergefunden

“Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei.
Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen darf?
Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich.
Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir?
Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung.
Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst musst du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.
Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe!
Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, — einen Schaffenden sollst du schaffen.
Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen…”

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Von Kind und Ehe

Nietzsche stellt die Frage in den Raum, daß finde, wer sie suche. Wäre sie Gesetz, wäre sie eine Diktatur des schlechten Gewissens, heruntergekommen auf ihre juristische Auslegung. Ich stelle mir diese Frage allein. Stellt sich ein afrikanischer Mann oder eine muslimische Frau aus Moabit diese Frage?

Klammer(Wiedergefunden in Peter Soloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, I.I. Das Du in dem Titel ist die Anrede an sich selbst in der zweiten Person und die Aufforderung es zu tun. Der Abschnitt über den Nietzsche-Text endet mit dem Satz: “Es mag ein Recht auf Unvollkommenheit geben, ein Recht auf Trivialität besteht nicht.”)

Wenn

wir die Ungleichheit abschaffen, wächst in uns die Sehnsucht danach. Je mehr wir sie abschaffen wollen, desto mächtiger und maßloser; auch der Wunsch der Überprüfung, des möglicherweise ultimativen Testes. Ein Element von Außen Klammer:(Äußerstem) in eine Gesellschaft zu holen, des Testes willen, um der Überwindung der Ungleichheit willen.

Der tellkampsche Punkt

Was in dem Mann vorging, weiß ich nicht, aber was in mir vorgegangen wäre, wäre ich an seiner Stelle gewesen. Die Schwierigkeit, eine erkannte Wahrheit in mein Umfeld zu tragen, auf die Gefahr eines strafenden Milieus hin. Ein Renegatentum, auf das man nicht vorbereitet war. Der kafkasche Punkt, von dem es keine Wiederkehr gibt und den es zu erreichen gilt. Die Beschämung seiner Kritiker, die um den Ruf ihrer intellektuellen Redlichkeit zu Recht fürchten müssen.

(Klammer: Die Renegation vom DDR-Milieu hatte man in Gedanken zigfach vollzogen. An einen Renegatentermin, wie ihn Uwe Kolbe beschreibt, kann ich mich nicht erinnern. Aber an eine ständige und ständig wachsende Verärgerung meinerseits über Ostalgie, das Infame der SED-PDS-Linke und jenes “Es war doch nicht Alles schlecht”.  Verwunderung, warum das gefühlsduselige Gebäude DDR nicht im Arsch der Geschichte verschwunden ist; mit dem Nationalsozialismus in die selbe Kammer gehört. Zwischen der Geiselhaft, in die uns die “Linke” mit ihrer Moral genommen hat und der Verklärung des DDR-Bolschewismus gibt es einen Zusammenhang.)

(Klammer2: Nach Nietzsche ist Sitte: daß was man eben tut, die Regeln des Zusammenlebens; Sittlichkeit: die Einhaltung der Regeln und Moral: die Einstellung zur Sittlichkeit. Die Moral der Linken ist eine Einstellung zu einer Vorstellung, wie die Welt sein müßte oder besser eine Einstellung zur Differenz zwischen dem wie die Welt sein soll und dem wie sie ist. Das ist eine ungeheure An-Maßung und Vereinfachung ins nahezu Infantile; da jeder eine andere Vorstellung hat, wird der gemeinsame Nenner der Moral immmer kleiner. Es ist keine Moral des Zusammenlebens, sondern eine der Volks-Erziehhung zu sich permanent ver-ändernden Geltungen. (Klammer3: Das Veränderliche als Lebensprinzip Metamorphose: ja; als Diktat: nein!) Daß die Sitte hinterfragt wird, schon durch das Leben selbst, durch Denken, Verhalten: es passiert und ist nicht zu ändern. Hier sind alle Fragen der Kritik berechtigt und alles weitere ergibt sich daraus, jedoch die Umkehr der Reihe, die Veränderungsgestaltung von der Moral her ist eine Wut-Attacke gegen die Sitte, gegen das, was sich nicht so einfach per se ändern läßt, gegen die Langsamkeit des Lebens. Am Ende richtet sie sich gegen den Wütenden selbst.)

Willkommenskultur

Als Eschatologie: Wissen um das Scheitern; nun erst recht.

(Klammer: Das alte deutsche Thema Götterdämmerung. Ohne Getön geht es nicht und nicht ohne Geiselhaft von Unentschlossenen, Fremden oder der Öffentlichkeit. Geiselnehmer und Geiseln sind schon vorher in den Stockholm—Modus gefallen und der Ausstieg aus diesem Wahn fällt schwer.)


Der dritte Mann

ist weder Harry Lime noch Orson Welles, sondern Gott. Nehme ich gedanklich eine Position ein, sucht ein Dämon (Luzifer) den Antagonismus. Tristram Shandy erzählt von den Goten, die ein Problem zweimal beraten: nüchtern und betrunken. Aus dem Streit zwischen Luzifer und der Vernunft oder der Unvernunft und Luzifer ergibt sich das Problem einer Lösung. Der dritte Mann im Kopf (um Gottes Willen: Kein Schlichter!) sorgt im besten Falle für Erweiterung oder die Einsicht, daß hier nichts zu tun ist.

Klammer:(Möglicherweise gab es Streit bei den Goten. Beim Trinken. Eskalation von: Du Arschloch, Du Fotze, bis zum Griff nach dem nächsten Stuhlbein. Schlichtung und klärendendes Gespräch am nächsten Tag, nüchtern. Eine Kulturtechnik, aus der Situation heraus.

Die Frage, ob derartig in Japan eine Kulturtechnik entstehen könnte, beantworte ich mir mit einem lachenden Kopfschütteln.

Die nüchterne Klärung wird die höfisch-höfliche Art, über Probleme zu reden, die trunkene die bäuerlich-plebejisch-proletarische.

Weißer Clown und dummer August sind eine Szene.)

Quer über die Felder!

Führe das Pferd doch

quer über die Felder hin!

Kuckucksrufe

schreibt Matsumo Basho ein Haiku auf den Pferderücken. Der Bursche, der das Pferd geführt hatte, bat ihn um einen Vers. Amüsiert hatte sich Basho gefragt, was wohl in dem Burschen vorgehe.

Quer über die Felder! So schnell kommt kein Gedicht. Führe das Pferd über die Felder, jage hinterher, wenn du es vermagst zu fangen, fange auch den Vers und lies ihn. Wenn der Kuckuck, der Vogel der Dichter ruft, hast du den Vers vielleicht erreicht.

Matsumo Basho, Haibun No. 48

(Klammer vom 17. Juni 2018: Jeder Kenner Bashos wird die Mißinterpretation dieses Haikus sofort stirnerunzelnd bemerken.

Basho hatte soeben die alte Grenze vom Kernland zum Hinterland überschritten. Dichter, die dies vor ihm taten, schilderten den Übergang herbstlich.

Aus dem geordneten Kernland kommt man in das chaotische Hinterland, wo der Herbst an den nahen Winter erinnert, den man in der Wildnis schwerer übersteht.

Basho überschreitet die Grenze,  sich der Vergangenheit von Krieg und Chaos [auch im Kernland!] bewußt; aber im Frühling!, vielleicht auch in der Hoffnung auf Gedichte aus dem Neuen und Wilden heraus.

Über die Felder heißt eigentlich, daß der Bursche, der das Pferd auf dem Basho sitzt, führt, Basho nun auf dem Pferd sitzend über die Felder führen soll, wo in den Bäumen der Kuckuck sitzt.

Die wilde Landschaft hinter der Grenzschranke ist längst erschlossen, Wege führen durch die Felder gewordene Wildnis. Ist das wild, reitet man quer darüber?

Jedoch, daß es Grenzen gibt, die erinnert werden, in dem man ihre konservierte ehemalige physische Präsenz bewußt überschreitet, verstehe ich. Nach fast Dreißig Jahren noch ist jede Überschreitung des Katzenkopfpflasterstreifens, der den Verlauf der berliner Mauer markiert, mir bewußt.)

Der Mensch und sein Können

Jeder hat sein eigenes Können. Es zu finden, zu entwickeln und anzuwenden, seine Aufgabe. Gelingt es, wird er wachsen. Zum Gelingen zu kommen, aus dem Gewöhnlichen, Alltäglichen und Banalen zu wachsen auf den Weg des Könnens. Daß man mich nicht gelassen, gilt nicht. Es gilt die Aufgabe, die Bedingungen dafür zu finden. Im Idealfall ist der Weg zum Weg des Könnens und Gelingens schon der Weg des Könnens, eher wird er es.  Direkt führt nur der Weg den Glücklichen dahin, eher gilt der Satz des Stalker in Tarkowskis Film: Der direkte Weg führt am wenigsten zum Ziel. Und welches Ziel überhaupt? Eher ein Kampf, der in der Stunde des Todes endet. Wissen wir dann, ob wir verloren oder gewonnen haben und was Gewinnen und Verlieren bedeutet? Oder? Bestimmt gibt es auch Könner des Irrtums.
(Klammer1: In der Zone gilt, je weiter, desto sicherer. So spricht Stalker zu Schriftsteller und Professor. In der Zone ist es so, daß der direkte Weg nicht nur nicht zum Ziel, sondern in den Tod führt.)
(Klammer2: Nietzsche in Morgenröthe: Die »Wege«. – Die angeblichen »kürzeren Wege« haben die Menschheit immer in große Gefahr gebracht; sie verläßt immer bei der frohen Botschaft, daß ein solcher kürzerer Weg gefunden sei, ihren Weg – und verliert den Weg.)