Auf schmalen Pfaden

Ich habe keine genaue Vorstellung, wie Bashos Wanderung durch das Hinterland eigentlich aussah. Der Weg seine Kartierung sind mir rätselhaft. Ich sehe die Erzählung des Wegs nicht. Aber im Augenblick des Lesens sehe ich mit seinen Augen, alles ist jetzt: die Kiefern, die Blüten, der Abend zu Gast. Im Erzählen spannt Basho den Bogen nach China (wo er nie war, so wie ich nie in Japan war), zu dem Gedicht eines Freundes, daß er auswendig weiß oder bei sich trägt. Es ist die Gleichzeitigkeit aller gespannten Sinne, in das Jetzteben, in die Vergangenheit, in die Zukunft, die der Leser eines Autors ist, der vor Vierhundert Jahren lebte. Durchaus eine Seinsform von Gott, die die Vorstellung von Gott nicht braucht.

Der blinde Fleck

Religiöser Glaube und Aberglaube sind ganz verschieden. Der eine entspringt aus Furcht und ist eine Art falscher Wissenschaft. Der andre ist ein Vertraun.

Ludwig Wittgenstein: Die unsinnige Frage nach dem Guten. Bemerkungen über Glauben und Religion.

Greta füllt mit ihrem weißen Kleid den blinden Fleck der Angst. Den des Aberglaubens. Offensichtlich mangelt es heute an der Fähigkeit, Glaube ins Weite zu transzendieren. Anders formuliert, wir der Möglichkeit beraubt zu sein scheinen, Vertrauen ins Weite empfinden zu können, überhaupt Vertrauen empfinden zu können, angesichts der Möglichkeit der schnellen Ansicht von (scheinbar) Allem. So bricht die alte abergläubische Angst durch, die nun nicht mehr die Natur mit den Dämonen menschlicher Bosheit und Unvollkommenheit bevölkert, sondern Alles, was Menschen selbst hervorbringen. Ein Aberglaube aus Konsumtion, selbst dieser ein Konsumprodukt – Gretas Popenkaste hat sich die Markenrechte schon gesichert.

Der Stummel

Der Baum hat sechzig Jahre gestanden. Übrig blieb ein Stubben, die Sägestelle hüfthoch. Ein Loch in der Mitte dokumentiert den Grund. Gestern brannte der Stubben von innen heraus, feuchter Qualm stieg aus dem Loch. Jemand alarmierte die Polizei, es kamen zwei Fahrzeuge mit vier Beamten. Einer ging in die nahe Bibliothek, einen Eimer Wasser zu holen, eine Nachbarin kam mit einem weiteren Eimer, den ein weiterer Beamter nahm um in der Bibliothek Wasser zu holen. Ein halber Eimer hätte genügt, den Brand zu löschen. Der Stubben ist durchnäßt, die Polizisten rauchen und lachen. Wie um zu zögern, in die Wagen zu steigen.

die bittere Rose

Bei Libuše Moníková (Die Fassade) stieß ich auf den Mythos der bitteren Rose, den Hinweis, daß er in Daumal: Der Berg Analog erzählt wird.
Wer vom Blatt der bitteren Rose gekostet hat, dem brennt die Zunge, wenn er lügt.
Die Wahrheit soll ja mit klarer Stimme sprechen, mit einer Stimme, mit einer Zunge, sagt man. Die Lüge spricht mit gespaltener Zunge, hat viele Beine. ETC. Was der Mythos der bitteren Rose erzählt, wie die Lüge dem Lügner zusetzt. Könnte man nicht davon ausgehen, daß sie viel eindeutiger ist als die Wahrheit?

Greta & Michel

Es ist unmöglich, durch Ansichten zur Wahrheit zu gelangen, denn jede Ansicht ist nur ein ver-rückter Blick auf die Wirklichkeit.

Emile Cioran: Gevierteilt

Greta stellt die Forderung, uns zu ändern. Sie ist der reine, kindliche, kalte Engel, der fordert und überwacht. Wegen der Reinheit unkritisierbar, der Kälte unbeirrbar, gibt ihr die Kindlichkeit den Anschein der Wahrheit. Sie ist der Schatten des Kindes, das über den nackten Kaiser lacht. Sie scheint Hoffnung zu verkörpern. Wäre sie ein schrecklicher Engel, hätte sie keine Zweifel an ihrem Tun. Sie wird sie haben und mit jedem Aufreißen des Mundes und Atmen und Redens wird sie gegen den Zweifel kämpfen.
Klammer(Vielleicht der Schatten des Kindes, der über sich selbst (die Schattenwerfende) lachen müßte)
Der Held aus Houllebecqs Serotonin ist ganz auf der Seite des Zweifels; die Depression hat ihn gepackt, aber was er tut (nachdem er versucht war, Gott zu sein), ist das einsamste, einzigste Tun eines Menschen (Heiligen?). Ohne Publikum, gäbe es den Leser, den Autor nicht.

Ungerechte Verteilung von Intelligenz

Was sagt mehr über die Verteilung von Intelligenz, als die Nachrichten des Tages: Der betrunkene alte Mann Europas redet mit einer Göre, deren kinderkreuzzüglerische Mentalität vielleicht mit einer Disposition zur Selbstbezogenheit erklärt werden kann, deren Popularität aber Fragen aufwirft über die, die ihr folgen. Andererseits schickt eine Nation von Acht Millionen Einwohnern eine Rakete zum Mond.

Welcher Wahnsinn?

Seit etwas mehr als einem Jahr versuche ich mich hier an dem, was ich Den Wahnsinn nenne.
Ich beobachte einen gemeinen Trick: Ich verenge den Diskursraum, vergrößere die Menge derer, die nicht darin sind und stelle sie vor die Wahl: Beitreten oder Nicht-Dazu-Gehören. Eben noch hatten wir einen Diskursraum Bunt, nun gelten nur noch die Farben Rot, Grün und Gelb. Alle anderen Farben sind ausgeschlossen. Lila, Schwarz, Ultraviolett oder Blau gibt es nicht mehr, sind ausgeschlossen. Die farblose Masse hat sich GrünRotGelb anzuschließen, wenn nicht, haben sie keine Farbe.
Aber der Bedarf an Diskurs steigt, wenn er beschränkt wird. Und: Wieviel Grüntöne sind zulässig und ab wann ist Blau Blau und nicht mehr Grün-Blau. Darf ich nicht mehr Lila sagen, sage ich Blassrot. Es müssen die zugelassenen Farben immer reiner werden oder künstlich variiert werden. Die Menge derer, die auf anderen Farben beharrt in quasi reaktionärer Renitenz wird bei mehr Reinheit größer, bei mehr künstlicher Variation wächst das Nebelreich des Opportunismus. Und das der frivolen Scherzbolde.
Die Schwierigkeit, sich aus diesem Diskursdilemma herauszuhalten, wird immer größer. Der Wahnsinn klebt an allen Enden. Über den Müll vor der eigenen Haustür zu sprechen, könnte Lila, Blau oder Orange sein, lieber sprechen wir über den auf den Weltmeeren. Den Müll vor meiner Tür hätte ja ein Türke, EU-Tourist oder gar eine Kämpferin der AntiFarblos fallengelassen haben. Sich Links oder Rechts der Diskursgrenze zu verorten wird schwer und ist eine Frage des Standpunktes. Darf ich heute noch Blassrot sagen oder ist Blassrot das neue Farblos? Haben Schwarze die Frechheit Schwarz zu behaupten oder Blaue Blau, wirft man ihnen aus der selbsterklärten neuen Mitte von RotGrünGelb vor, sie würden damit den Raum des sagbaren Farblosen unzulässig erweitern wollen.
Bis jetzt hat sich meine Hoffnung, daß sich der Wahnsinn langsam in einen Diskurs der Unterschiede auflöse nicht erfüllt. Im Gegenteil, neue Farbelehre und alte Farbenlehre überlagern sich und bilden Interferenzen.
Das Gesicht verlieren zu dürfen, gehört zu den Kulturleistungen des Westens. Fehler machen zu können, kann Ansporn oder Grund zur Faulheit sein. Doppelter Standard liegt unter den zu hohen Trauben oder der Versuch, etwas zu wiederholen, bis es gelingt.
Das Gesicht nicht zu verlieren im mühsamen Aufrechthalten der Lüge: gerade eben noch Blau, dann Grün, nun, wo ist man denn jetzt, bildet bizarre Interferenzen, die im Sonnenlicht schillern wie müde bewegte Ölteppiche.
Wenn von der Lüge die Rede ist, was ist dann Wahrheit?

ohne Kontext

Wenn ein Text einen Kontext braucht um erklärt zu werden, wenn er nicht aus sich selbst heraus ist, dann ist er nichts als Ideologie oder Polemik oder Rechtfertigung, bestenfalls Journalismus.
Die folgenden beiden Texte sind in einem historischen Kontext entstanden. Der eine ist über Fünfzig, der andere über Einhundertundfünfzig Jahre alt. Beiden Autoren geht es um etwas, was sie für wahr halten. Beide haben die ihre erkannte Wahrheit nicht allein in einem Denk- sondern vielmehr in einem Auseinandersetzungsprozeß mit sich selbst in einer Atmosphäre, die nicht unbedingt bestätigend war, errungen.
Beide Texte sind aktuell, als wären sie für uns jetzt geschrieben.


Ich glaube, dass diejenigen, die nicht teilnahmen, ein anderes Kriterium hatten: Sie stellten sich die Frage, inwiefern sie mit sich selbst zusammenleben könnten, wenn sie bestimmte Taten begingen; und wenn sie es vorzogen, nichts zu tun, dann nicht etwa, weil sich die Welt dadurch zum Besseren veränderte, sondern weil sie nur unter dieser Bedingung mit sich selbst weiterleben konnten. Folglich wählten sie den Tod, wenn sie zum Mitmachen gezwungen wurden. Um es deutlich zu sagen: Nicht weil sie das Gebot >>Du sollst nicht töten<< streng befolgt hätten, lehnten sie es ab zu morden, sondern eher deshalb, weil sie nicht willens waren, mit einem Mörder zusammenzuleben — mit sich selbst. Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selbst zusammenzuleben, das heißt sich in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu befinden, welches wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich als Denken bezeichnen. Obwohl sie allem Philosophieren zugrunde liegt, ist diese Art des Denkens nicht technisch und handelt nicht von theoretischen Fragen. Die Trennungslinie zwischen denen, die denken wollen und deshalb für sich selbst urteilen müssen, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung. In dieser Hinsicht kann uns der totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten Gesellschaft während des Hitlerregimes lehren, dass es sich bei denen, auf die unter solchen Umständen Verlass ist, nicht um jene handelt, denen Werte lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und Maßstäben festhalten; man weiß jetzt, dass sich all dies über Nacht ändern kann, und was davon übrig bleibt, ist die Gewohnheit, an irgend etwas festzuhalten. Viel verlässlicher werden die Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa weil Skeptizismus gut und Zweifel heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Am allerbesten werden jene sein, die wenigstens eins genau wissen: dass wir, solange wir leben, dazu verdammt sind, mit uns selbst zusammenzuleben, was immer auch geschehen mag ...

Hannah Arendt: „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur“
München, Piper, 2018


Die Frage selbst bedarf wohl keiner Erhellung dazu, beantwortet werden zu können. Jedermann muß sich ja wohl selber sagen, daß es nicht zu verantworten ist.
Was erhellt zu werden bedarf, ist daher, daß, was der Staat getan hat und tut, bedeutet, Christentum, wo möglich, unmöglich zu machen; und das kann ganz leicht und sehr kurz erhellt werden, denn der tatsächliche Zustand im Lande ist wirklich der, daß das Christentum, das Christentum des Neuen Testaments, nicht nur nicht besteht, sondern, wo möglich, unmöglich gemacht ist.
Nimm an, der Staat setzte 1000 Beamte ein, die mit Familie davon lebten, also pekuniär daran interessiert wären, Christentum zu verhindern: das wäre doch wohl ein Versuch in die Richtung, Christentum, wo möglich, unmöglich zu machen.

Und doch wäre dieser Versuch (der ja das Offenkundige an sich hat, daß er offenkundig stattfände, um Christentum zu verhindern) bei weitem nicht so gefährlich wie das, was tatsächlich geschieht, daß der Staat 1000 Beamte einsetzt, die – mit dem Anspruch, Christentum zu verkünden (eben darin liegt die größere Gefahr im Vergleich damit, ganz offenkundig Christentum verhindern zu wollen) pekuniär daran interessiert sind, daß a) die Menschen sich Christen nennen — je größer die Schafherde, desto besser -, die Bezeichnung Christen annehmen, und daß es b) dabei bleibt, daß sie nicht erfahren, was Christentum in Wahrheit ist.

Gott zu verehren, indem man ihn zum Narren hält, [darin] liegt für mich etwas derart Abscheuliches und Empörendes, daß ich, soweit ich vermag, mit aller Macht bestrebt sein werde, dazu beizutragen, daß dem gewehrt wird, daß die Menge der Menschen offene Augen dafür bekommt, wie es zusammenhängt, und dadurch gehindert wird, schuldig an einem Verbrechen zu werden, an dem eigentlich der Staat und die Pfarrer sie schuldig gemacht haben — denn die Menge der Menschen mag noch so leichtsinnig, noch so sinnenhaft sein, es ist doch zuviel Besseres in ihr, als daß sie Gott auf diese Weise verehren wollte.
Deshalb Licht in die Sache; den Menschen soll deutlich werden, was das Neue Testament unter Christsein versteht, auf daß dann ein jeder wählen kann, ob er Christ sein will, oder ob er es redlich, ehrlich, ohne Vorbehalt nicht sein will; und laut soll es dem ganzen Volk gesagt werden: unendlich viel lieber ist Gott in den Himmeln, daß Du – die Bedingung dafür, daß Du es möglicherweise werden kannst – ehrlich zugibst, daß Du nicht Christ bist und es nicht sein willst, als dieses Ekelerregende: Gott zu verehren, indem man ihn zum Narren hält.

Søren Kierkegaard: Ist es zu verantworten, daß der Staat – der christliche Staat! – Christentum, wo möglich unmöglich macht?
Aus: Søren Kierkegaard: Der Augenblick, Nördlingen, 1988