Auf einer sehr heftigen Diskussion über Kriegsverbrechen der Russen in der Ukraine, wo mir Gegenüber vorwarfen, auf westliche Propaganda reingefallen zu sein und ich dem entgegnete, daß es in Rußland durchaus eine Kultur der Gewalt gäbe…
Zuerst versuchte ich es mit Gogol, “Die toten Seelen”, gab aber bald wieder auf. Die Welt dort ist russisch aber eben auch stark mit der deutschen Romantik verwandt, mit Hoffmann, Fouque und Contessa.
Man reist mit der Postkutsche und das letzte Stück zum Herrenhaus von X. mit der Equipage des Herrn, wenn die Wege schlecht sind, mit dem Ochsenkarren.
Bei Pasternak reist man mit der Eisenbahn, jedoch das letzte Stück wie bei Gogol. Hat die Welt von Dr. Shiwago, die erzählte von 1905 bis 1929 (der Roman endet 1943), etwas mit dem Rußland von heute zu tun? Der mögliche Zusammenbruch der russischen Armeen heute, mit dem von 1917; der Gedanke daran haben mich spontan zu Pasternak greifen lassen. Und die Überraschungen beim Lesen bestätigen meine Wahl. Es gibt das Gewalttätige und das Zarte in dem Nebeneinander einer Kultur, das dem Untergang nahe ebenso wie das nach Erlösung suchende, das Feine und das Grobe. Das Scheidende geht nicht nur durch Klassen und Ränge, ebenso gehen die Risse durch Einzelne.
Pasternak hat den Roman nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, daß es mit Rußland und seinem Imperium so kommen mußte, ergibt sich übehaupt nicht aus den ersten fünfzig Seiten. Alles ist möglich, Chaos und Vernunft, Krieg und Heilung, Fortschritt und Niedergang. Die Risse gehen von damals bis heute, aber sie sehen anders aus, nach ihrem Weg durch die Zeit. Ich suche Verbindungen und Assoziationen und will versuchen, die Denunziation zu vermeiden.
Der zweite Teilnehmer des jetzigen Krieges, die Ukraine kommt in dem Roman nur am Rande vor, als Territorium Russlands, als das es jetzt von diesem beansprucht wird.
Die Stelle, die im Roman für mich leer ist – weil ich sie suche – das was jetzt der Schauplatz des Krieges ist.
Monat: Oktober 2022
Shiwago 2
Eine Demonstrationn auf der es um Alles geht: ums Essen, nicht mehr gedemütigt zu werden, sich zu zeigen – dabei zu sein. Zuerst konnten die Organisatoren sich nicht einigen, darauf entstand die Demonstration spontan, die abgesprungenen Organisatoren sprangen wieder auf. Die klugen Reden gingen unter, die lauten, schreienden wurden stimmungsvoll schreiend begleitet: eine Liturgie der Straße.
Dann kamen die Dragoner, die Köpfe spalteten und voller Verachtung & Brutalität in die Menge ritten.
Eine ältere Dame: “Verfluchte Totschläger, verdammte Mörder! Den Menschen zur Freude hat der Zar die Freiheit gegeben, und das können sie nicht ertragen.”
Wieviel Irrtümer in zwei Sätzen. Die Hoffnung auf den Zaren. Wenn das der Führer wüßte. Zu glauben, daß wenn man schon den Mut aufbietet zu demonstrieren, daß das erhört wird, daß es gewissermaßen eine Genugtuung, eine Stunde der Wahrheit als Reaktion auf den kollektiven Zorn gibt. Dann: Reformen sind keine Freiheit, der Zar gibt keine Freiheit: die nimmt man sich. Dies eine Lehre für heute: man muß keine sinnlosen Maßnahmen mitmachen.
Man sucht sich die Überfigur, die gut ist und stellt sie gegen die Bösen. Beide zusammen machen Teile eines Regimes aus, daß die Dame sie auseinanderdividiert, um der Güte des Zaren willen… Das wiederholt sich bis heute, der Mensch nimmt sich nicht seine Freiheit, sondern braucht eine Figur, die sie ihm gibt. Das trifft auch auf politische/geistige Führer/Gefolgschaften zu.
Weshalb diese Freiheit auch keine Freude ist, zumindest keine, die lang anhält. Das ist die Dialektik der Freiheit: Solange man sie sich nicht nimmt, ist was gegeben wird zu wenig.
Der eigene Zustand der Freiheit darüber hinaus; nur wenige können sagen: Ich bin frei.
Doktor Shiwago: Wiederlesen nach 35 Jahren
Zuerst mal die Übersetzung von Thomas Reschke, die die Modernität und Gegenwärtigkeit des Textes ins Deutsche bringt. Nach 30 Seiten folgendes Fazit. Die Einführung der Helden zeigt labile bis destruktive Familienverhältnisse, der Vater Shiwagos ein Trinker und Abenteurer, die Mutter an Schwindsucht gestorben. Der Vater einer anderen Figur verbannt nach Sibirien, die Mutter eine Adlige, die das Abenteuer Revolution sucht.
Während einer Fahrt auf ein Landgut kommentiert der Kutscher: “Das Volk ist von der Leine….Gib den Mushiks Freiheit, dann murksen sie sich gegenseitig ab…”
Neben dem Landgut hält ein Zug, ein Selbstmörder hat sich während der Fahrt hinausgestürzt.
Gleichzeitig Versuche von geistiger Auseinandersetzung über die Verhältnisse, mit Distanz durchaus über sie hinaus. Dazu der Kommentar des Autors: “Alle Bewegungen auf der Welt sind im einzelnen nüchtern berechnet, in ihrer Gesamtheit aber unbewußt trunken im Strom des Lebens, der sie vereint. Die Menschen rackern sich ab, in Bewegung gesetzt vom Mechanismus ihrer eigenen Sorgen. Aber die Mechanismen würden nicht funktioniert haben, wäre nicht ihr Hauptregulator eine tief in ihnen sitzende Sorglosigkeit…”
neuere Irrtümer
Zu wissen, daß man sich möglicherweise hinsichtlich seiner Maßnahmenfolgebereitschaft, Virus & Co betreffend geirrt hat, könnte nun davor bewahren, in eine Kriegsfolgebereitschaft zu geraten.
Wie es andererseits eine Kriegsfolgeverweigerung gibt, die aus Maßnahmenverweigerung folgt.
Dann gibt es eine Kriegsfolgebereitschaft, die rein emotional ist, ohne Rationalität. Sie ähnelt dem blinden Folgen der Corona-Maßnahmen.
Wenige sind rational, meißt sind es solche, die eine Kenntnis des Ostens besitzen, darunter Militärs, die sowohl Mittel und Risiken besser einschätzen können als Friedensfreunde.
Angst schränkt die Beurteilungen ein, verstärkt Reaktionen. Die kürzliche Nachricht über das Auftauchen einer russischen Atomwaffeneinheit, deren Wahrheitsgehalt kaum bestätigt ist (es könnte ein älteres Video oder eben auch keine solche Einheit gewesen sein), zeigt die Angstbereitschaft, die zu Meldungen hinreißen läßt, die Panik erzeugen könnten.
Neben den direkten Kombattanten, ist Deutschland am meisten von diesem Krieg im Osten betroffen. Durch eine innere Fehlentwicklung, die viele Gründe hat, aber unter anderem auch den, so uneins mit seiner Vergangenheit zu sein, daß es seine Gegenwärtigkeit immer mehr lähmt.
Seine Abhängigkeit von russischem Gas ist die Folge einer energiepolitischen Fehlkalkulation, gepaart mit ideologischer Blindheit. Eine davon ist eine illusorische Sicht auf Rußland.
Die Energiesituation in Deutschland ist aber beängstigend, ebenso die Gefahr eines größeren Krieges mit dem möglichen Einsatz von Atomwaffen.
Das Gefahr ist ungleich größer, als die eben noch empfundene durch einen Virus.
Insofern handelt Deutschland, indem es scheinbar in seinem Bündnis agiert, tut es aber auch nicht, indem es notwendige Waffenlieferungen an die Ukraine verzögert. Die SPD ist durch ihre marxistische Tradition gelähmt, ihre jahrzehntelange Indifferenz dem Kommunismus gegenüber, der Sowjetunion und in der Folge Rußland. Ein Helmut Schmidt, der rational die Richtigkeit des NATO-Doppelbeschlusses vertreten hat, fehlt heute.
Die Grünen überschreien ihre eigene pazifistische Tradition und sind darin nicht ernst zu nehmen. Sie sind in diesem Geschehen (und in vielen anderen auch) die am irrationalsten agierende Gruppe. Aber darin vertreten sie auch viele andere und werden am stärksten mit der neuen Realität konfrontiert.
Ich sehe durchaus Bereitschaft, sich aus dem Nebel deutscher Illusionen zu befreien. Nur ist eine simple Wendung zu “Stand with Ukraine” (warum muß das Englisch sein?) zu wenig, solange das Land weiter an seiner Lähmung arbeitet. Zu bekennen, ohne zu denken & zu handeln ist zu wenig.