Was sagt mehr über die Verteilung von Intelligenz, als die Nachrichten des Tages: Der betrunkene alte Mann Europas redet mit einer Göre, deren kinderkreuzzüglerische Mentalität vielleicht mit einer Disposition zur Selbstbezogenheit erklärt werden kann, deren Popularität aber Fragen aufwirft über die, die ihr folgen. Andererseits schickt eine Nation von Acht Millionen Einwohnern eine Rakete zum Mond.
Monat: Februar 2019
Welcher Wahnsinn?
Seit etwas mehr als einem Jahr versuche ich mich hier an dem, was ich Den Wahnsinn nenne.
Ich beobachte einen gemeinen Trick: Ich verenge den Diskursraum, vergrößere die Menge derer, die nicht darin sind und stelle sie vor die Wahl: Beitreten oder Nicht-Dazu-Gehören. Eben noch hatten wir einen Diskursraum Bunt, nun gelten nur noch die Farben Rot, Grün und Gelb. Alle anderen Farben sind ausgeschlossen. Lila, Schwarz, Ultraviolett oder Blau gibt es nicht mehr, sind ausgeschlossen. Die farblose Masse hat sich GrünRotGelb anzuschließen, wenn nicht, haben sie keine Farbe.
Aber der Bedarf an Diskurs steigt, wenn er beschränkt wird. Und: Wieviel Grüntöne sind zulässig und ab wann ist Blau Blau und nicht mehr Grün-Blau. Darf ich nicht mehr Lila sagen, sage ich Blassrot. Es müssen die zugelassenen Farben immer reiner werden oder künstlich variiert werden. Die Menge derer, die auf anderen Farben beharrt in quasi reaktionärer Renitenz wird bei mehr Reinheit größer, bei mehr künstlicher Variation wächst das Nebelreich des Opportunismus. Und das der frivolen Scherzbolde.
Die Schwierigkeit, sich aus diesem Diskursdilemma herauszuhalten, wird immer größer. Der Wahnsinn klebt an allen Enden. Über den Müll vor der eigenen Haustür zu sprechen, könnte Lila, Blau oder Orange sein, lieber sprechen wir über den auf den Weltmeeren. Den Müll vor meiner Tür hätte ja ein Türke, EU-Tourist oder gar eine Kämpferin der AntiFarblos fallengelassen haben. Sich Links oder Rechts der Diskursgrenze zu verorten wird schwer und ist eine Frage des Standpunktes. Darf ich heute noch Blassrot sagen oder ist Blassrot das neue Farblos? Haben Schwarze die Frechheit Schwarz zu behaupten oder Blaue Blau, wirft man ihnen aus der selbsterklärten neuen Mitte von RotGrünGelb vor, sie würden damit den Raum des sagbaren Farblosen unzulässig erweitern wollen.
Bis jetzt hat sich meine Hoffnung, daß sich der Wahnsinn langsam in einen Diskurs der Unterschiede auflöse nicht erfüllt. Im Gegenteil, neue Farbelehre und alte Farbenlehre überlagern sich und bilden Interferenzen.
Das Gesicht verlieren zu dürfen, gehört zu den Kulturleistungen des Westens. Fehler machen zu können, kann Ansporn oder Grund zur Faulheit sein. Doppelter Standard liegt unter den zu hohen Trauben oder der Versuch, etwas zu wiederholen, bis es gelingt.
Das Gesicht nicht zu verlieren im mühsamen Aufrechthalten der Lüge: gerade eben noch Blau, dann Grün, nun, wo ist man denn jetzt, bildet bizarre Interferenzen, die im Sonnenlicht schillern wie müde bewegte Ölteppiche.
Wenn von der Lüge die Rede ist, was ist dann Wahrheit?
ohne Kontext
Wenn ein Text einen Kontext braucht um erklärt zu werden, wenn er nicht aus sich selbst heraus ist, dann ist er nichts als Ideologie oder Polemik oder Rechtfertigung, bestenfalls Journalismus.
Die folgenden beiden Texte sind in einem historischen Kontext entstanden. Der eine ist über Fünfzig, der andere über Einhundertundfünfzig Jahre alt. Beiden Autoren geht es um etwas, was sie für wahr halten. Beide haben die ihre erkannte Wahrheit nicht allein in einem Denk- sondern vielmehr in einem Auseinandersetzungsprozeß mit sich selbst in einer Atmosphäre, die nicht unbedingt bestätigend war, errungen.
Beide Texte sind aktuell, als wären sie für uns jetzt geschrieben.
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Ich glaube, dass diejenigen, die nicht teilnahmen, ein anderes Kriterium hatten: Sie stellten sich die Frage, inwiefern sie mit sich selbst zusammenleben könnten, wenn sie bestimmte Taten begingen; und wenn sie es vorzogen, nichts zu tun, dann nicht etwa, weil sich die Welt dadurch zum Besseren veränderte, sondern weil sie nur unter dieser Bedingung mit sich selbst weiterleben konnten. Folglich wählten sie den Tod, wenn sie zum Mitmachen gezwungen wurden. Um es deutlich zu sagen: Nicht weil sie das Gebot >>Du sollst nicht töten<< streng befolgt hätten, lehnten sie es ab zu morden, sondern eher deshalb, weil sie nicht willens waren, mit einem Mörder zusammenzuleben — mit sich selbst. Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selbst zusammenzuleben, das heißt sich in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu befinden, welches wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich als Denken bezeichnen. Obwohl sie allem Philosophieren zugrunde liegt, ist diese Art des Denkens nicht technisch und handelt nicht von theoretischen Fragen. Die Trennungslinie zwischen denen, die denken wollen und deshalb für sich selbst urteilen müssen, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung. In dieser Hinsicht kann uns der totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten Gesellschaft während des Hitlerregimes lehren, dass es sich bei denen, auf die unter solchen Umständen Verlass ist, nicht um jene handelt, denen Werte lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und Maßstäben festhalten; man weiß jetzt, dass sich all dies über Nacht ändern kann, und was davon übrig bleibt, ist die Gewohnheit, an irgend etwas festzuhalten. Viel verlässlicher werden die Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa weil Skeptizismus gut und Zweifel heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Am allerbesten werden jene sein, die wenigstens eins genau wissen: dass wir, solange wir leben, dazu verdammt sind, mit uns selbst zusammenzuleben, was immer auch geschehen mag ...
Hannah Arendt: “Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur”
München, Piper, 2018
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Die Frage selbst bedarf wohl keiner Erhellung dazu, beantwortet werden zu können. Jedermann muß sich ja wohl selber sagen, daß es nicht zu verantworten ist.
Was erhellt zu werden bedarf, ist daher, daß, was der Staat getan hat und tut, bedeutet, Christentum, wo möglich, unmöglich zu machen; und das kann ganz leicht und sehr kurz erhellt werden, denn der tatsächliche Zustand im Lande ist wirklich der, daß das Christentum, das Christentum des Neuen Testaments, nicht nur nicht besteht, sondern, wo möglich, unmöglich gemacht ist.
Nimm an, der Staat setzte 1000 Beamte ein, die mit Familie davon lebten, also pekuniär daran interessiert wären, Christentum zu verhindern: das wäre doch wohl ein Versuch in die Richtung, Christentum, wo möglich, unmöglich zu machen.Und doch wäre dieser Versuch (der ja das Offenkundige an sich hat, daß er offenkundig stattfände, um Christentum zu verhindern) bei weitem nicht so gefährlich wie das, was tatsächlich geschieht, daß der Staat 1000 Beamte einsetzt, die – mit dem Anspruch, Christentum zu verkünden (eben darin liegt die größere Gefahr im Vergleich damit, ganz offenkundig Christentum verhindern zu wollen) pekuniär daran interessiert sind, daß a) die Menschen sich Christen nennen — je größer die Schafherde, desto besser -, die Bezeichnung Christen annehmen, und daß es b) dabei bleibt, daß sie nicht erfahren, was Christentum in Wahrheit ist.
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Gott zu verehren, indem man ihn zum Narren hält, [darin] liegt für mich etwas derart Abscheuliches und Empörendes, daß ich, soweit ich vermag, mit aller Macht bestrebt sein werde, dazu beizutragen, daß dem gewehrt wird, daß die Menge der Menschen offene Augen dafür bekommt, wie es zusammenhängt, und dadurch gehindert wird, schuldig an einem Verbrechen zu werden, an dem eigentlich der Staat und die Pfarrer sie schuldig gemacht haben — denn die Menge der Menschen mag noch so leichtsinnig, noch so sinnenhaft sein, es ist doch zuviel Besseres in ihr, als daß sie Gott auf diese Weise verehren wollte.
Deshalb Licht in die Sache; den Menschen soll deutlich werden, was das Neue Testament unter Christsein versteht, auf daß dann ein jeder wählen kann, ob er Christ sein will, oder ob er es redlich, ehrlich, ohne Vorbehalt nicht sein will; und laut soll es dem ganzen Volk gesagt werden: unendlich viel lieber ist Gott in den Himmeln, daß Du – die Bedingung dafür, daß Du es möglicherweise werden kannst – ehrlich zugibst, daß Du nicht Christ bist und es nicht sein willst, als dieses Ekelerregende: Gott zu verehren, indem man ihn zum Narren hält.…
Søren Kierkegaard: Ist es zu verantworten, daß der Staat – der christliche Staat! – Christentum, wo möglich unmöglich macht?
Aus: Søren Kierkegaard: Der Augenblick, Nördlingen, 1988
Warschauer Straße
Als die grünen Kacheln abgerissen wurden, die eine ästhetische Verbindung zwischen Bahnhof und Fleischereiimbiß herstellten, gab es bei mir wenig Bedauern. Der Patina des alten Ostkreuz auf den verschwundenen Ziegeln werde ich länger nachtrauern. Die Baubahnsteige über fast fünfzehn Jahre, der wachsende Müll auf den Schienen, in den Gitterkästen, wo die Arbeiter ihr Material lagerten, die Behelfsbrücken. Der wachsende Verkehr, damals (2005) stand ich morgens manchmal mit Wenigen oder Einigen auf dem Bahnsteig, jetzt sind es Viele. Eine Zeitlang existierte der Bahnhof Warschauer Straße nur als Haltepunkt für den Schienenersatzverkehr, Die S3 fuhr nur ab Ostkreuz, ich umfuhr ihn und vergaß ihn fast.
Wie hätte ich! Als die S3 wieder dorthin fuhr und dort hielt, hatte sich Einiges verändert. Der Drogenhandel war da. Daß polnische Punks im Sommer unter den Weißdornbäumen saßen, war schon 2005 so und Anfang der 2000er verteilte die Anarchistische Pogo-Partei Fluglätter mit dem Titel: Arbeit ist Scheiße. Ich kannte den Bettler, ein hagerer Mann, der auch bei Frost auf einer dünnen Decke saß. Es war nie schön. Es war auch nie sauber. Morgens ein paar Pendler, im Laufe des Tages wurde die Brücke von Leuten bevölkert, die mißmutig dem Laufe des Tages zu folgen schienen.
Am besten war sie, wenn es grau war, dann war das Wetter wie die Brücke. Bei Sonne entblößte sie ihre Häßlichkeit brutal.
Der Sommer 2015 stellt einen gewissen Höhepunkt in der Geschichte der Warschauer Brücke dar. Ihr Woodstock gewissermaßen. Nie vorher oder nachher habe ich so viele gute Straßenmusiker dort gesehen. Mit dem Drogenhandel kam das Altamont und zu den gewachsenen Müllbergen, noch mehr Müll. Auf der Behelfsbrücke sah ich ein wie irre daherlaufendes Mädchen auf mich zu kommen, neben mir kam ein schwarzer Mann die Treppe hoch, sie stürzte auf ihn zu und verlangte Drogen. Der Schwarze lachte und hielt die Hände vor, er wäre Passant und würde keine Drogen verkaufen.
Die Bahnsteige und Treppen waren als erste fertig. Dem eben noch frischen Beton gaben Kotze, Bier, Blut und Pisse gleich und unmittelbar eine neue Patina. Die Rolltreppe ging vier Tage lang. Hinter Blechfassaden entstand der neue Bahnhof, im Wettlauf mit der sogleich einsetzenden Zerstörung. Der Durchgang auf der Brücke war schmaler geworden durch die Baustelle. Es gab eine Ecke, wo sich der Gang etwas verbreiterte. Einmal ging ich dort entlang, meine Aufmerksamkeit wurde jäh von einem Plätschern in eben diese Ecke gezogen. Ein Araber stand dort und pißte. Er pißt mir entgegen, mich sozusagen an, wäre nicht die Verkleidung aus Blech gewesen.
Die Bauarbeiter bauten weiter, verkleideten die Betonkiste, zu der der neue Bahnhof langsam wurde mit Kupfer. Plötzlich verschwinden Metallwände wo Gänge waren und geben die Bühne frei. Gerüste für Trockenbau werden eingezogen, plötzlich ist Werbung da: Treffen Sie Ihre Zielgruppe hier. Auf einem der grauen Paravents, hinter dem halbversteckt Bauarbeiter arbeiten steht: Räuberbraut, die Welt.
Gestern nun schien die Sonne, fünf Grad über Null, ein Mädchen vor mir faßte sich in ihr Haar. Als wäre der Winter vorbei, die Mädchen sind wieder Mädchen, die Männer schauen und sind wieder Männer, Diverse sind wieder Diverse. Fenster sind plötzlich da und erhellen die ehemals düsteren Gänge durch die Baustelle mit Sonnenlicht.
Etwas wie Architektur scheint durch, auch Schönheit darin.
Gott erhalte das und die Stadt Berlin und verschone uns vor Menschen, die alles fallenlassen, was sie nicht mehr brauchen: Kippen, Becher, Knüll oder Pisse.
Gegen die Obrigkeit
Seine Eltern für das mißglückt-Eigene verantwortlich zu machen, findet seine Fortsetzung im Kampf gegen die Obrigkeit. Die chinesische Lösung des Problems steht bei Konfuzius: Ehre und achte deine Eltern. Auch Moses brachte das als Gebot mit.
Um der Wahrheit willen mit seinen Eltern zu streiten, keiner kommt darum herum, wer diese sucht. Die Balance des Ausgleichs – ohne daß die Älteren sich ergeben müssen, die Jungen im Besitz des Neuen bleiben dürfen.