Warschauer Straße

Als die grünen Kacheln abgerissen wurden, die eine ästhetische Verbindung zwischen Bahnhof und Fleischereiimbiß herstellten, gab es bei mir wenig Bedauern. Der Patina des alten Ostkreuz auf den verschwundenen Ziegeln werde ich länger nachtrauern. Die Baubahnsteige über fast fünfzehn Jahre, der wachsende Müll auf den Schienen, in den Gitterkästen, wo die Arbeiter ihr Material lagerten, die Behelfsbrücken. Der wachsende Verkehr, damals (2005) stand ich morgens manchmal mit Wenigen oder Einigen auf dem Bahnsteig, jetzt sind es Viele. Eine Zeitlang existierte der Bahnhof Warschauer Straße nur als Haltepunkt für den Schienenersatzverkehr, Die S3 fuhr nur ab Ostkreuz, ich umfuhr ihn und vergaß ihn fast.
Wie hätte ich! Als die S3 wieder dorthin fuhr und dort hielt, hatte sich Einiges verändert. Der Drogenhandel war da. Daß polnische Punks im Sommer unter den Weißdornbäumen saßen, war schon 2005 so und Anfang der 2000er verteilte die Anarchistische Pogo-Partei Fluglätter mit dem Titel: Arbeit ist Scheiße. Ich kannte den Bettler, ein hagerer Mann, der auch bei Frost auf einer dünnen Decke saß. Es war nie schön. Es war auch nie sauber. Morgens ein paar Pendler, im Laufe des Tages wurde die Brücke von Leuten bevölkert, die mißmutig dem Laufe des Tages zu folgen schienen.
Am besten war sie, wenn es grau war, dann war das Wetter wie die Brücke. Bei Sonne entblößte sie ihre Häßlichkeit brutal.
Der Sommer 2015 stellt einen gewissen Höhepunkt in der Geschichte der Warschauer Brücke dar. Ihr Woodstock gewissermaßen. Nie vorher oder nachher habe ich so viele gute Straßenmusiker dort gesehen. Mit dem Drogenhandel kam das Altamont und zu den gewachsenen Müllbergen, noch mehr Müll. Auf der Behelfsbrücke sah ich ein wie irre daherlaufendes Mädchen auf mich zu kommen, neben mir kam ein schwarzer Mann die Treppe hoch, sie stürzte auf ihn zu und verlangte Drogen. Der Schwarze lachte und hielt die Hände vor, er wäre Passant und würde keine Drogen verkaufen.
Die Bahnsteige und Treppen waren als erste fertig. Dem eben noch frischen Beton gaben Kotze, Bier, Blut und Pisse gleich und unmittelbar eine neue Patina. Die Rolltreppe ging vier Tage lang. Hinter Blechfassaden entstand der neue Bahnhof, im Wettlauf mit der sogleich einsetzenden Zerstörung. Der Durchgang auf der Brücke war schmaler geworden durch die Baustelle. Es gab eine Ecke, wo sich der Gang etwas verbreiterte. Einmal ging ich dort entlang, meine Aufmerksamkeit wurde jäh von einem Plätschern in eben diese Ecke gezogen. Ein Araber stand dort und pißte. Er pißt mir entgegen, mich sozusagen an, wäre nicht die Verkleidung aus Blech gewesen.
Die Bauarbeiter bauten weiter, verkleideten die Betonkiste, zu der der neue Bahnhof langsam wurde mit Kupfer. Plötzlich verschwinden Metallwände wo Gänge waren und geben die Bühne frei. Gerüste für Trockenbau werden eingezogen, plötzlich ist Werbung da: Treffen Sie Ihre Zielgruppe hier. Auf einem der grauen Paravents, hinter dem halbversteckt Bauarbeiter arbeiten steht: Räuberbraut, die Welt.
Gestern nun schien die Sonne, fünf Grad über Null, ein Mädchen vor mir faßte sich in ihr Haar. Als wäre der Winter vorbei, die Mädchen sind wieder Mädchen, die Männer schauen und sind wieder Männer, Diverse sind wieder Diverse. Fenster sind plötzlich da und erhellen die ehemals düsteren Gänge durch die Baustelle mit Sonnenlicht.
Etwas wie Architektur scheint durch, auch Schönheit darin.
Gott erhalte das und die Stadt Berlin und verschone uns vor Menschen, die alles fallenlassen, was sie nicht mehr brauchen: Kippen, Becher, Knüll oder Pisse.