ohne Kontext

Wenn ein Text einen Kontext braucht um erklärt zu werden, wenn er nicht aus sich selbst heraus ist, dann ist er nichts als Ideologie oder Polemik oder Rechtfertigung, bestenfalls Journalismus.
Die folgenden beiden Texte sind in einem historischen Kontext entstanden. Der eine ist über Fünfzig, der andere über Einhundertundfünfzig Jahre alt. Beiden Autoren geht es um etwas, was sie für wahr halten. Beide haben die ihre erkannte Wahrheit nicht allein in einem Denk- sondern vielmehr in einem Auseinandersetzungsprozeß mit sich selbst in einer Atmosphäre, die nicht unbedingt bestätigend war, errungen.
Beide Texte sind aktuell, als wären sie für uns jetzt geschrieben.


Ich glaube, dass diejenigen, die nicht teilnahmen, ein anderes Kriterium hatten: Sie stellten sich die Frage, inwiefern sie mit sich selbst zusammenleben könnten, wenn sie bestimmte Taten begingen; und wenn sie es vorzogen, nichts zu tun, dann nicht etwa, weil sich die Welt dadurch zum Besseren veränderte, sondern weil sie nur unter dieser Bedingung mit sich selbst weiterleben konnten. Folglich wählten sie den Tod, wenn sie zum Mitmachen gezwungen wurden. Um es deutlich zu sagen: Nicht weil sie das Gebot >>Du sollst nicht töten<< streng befolgt hätten, lehnten sie es ab zu morden, sondern eher deshalb, weil sie nicht willens waren, mit einem Mörder zusammenzuleben — mit sich selbst. Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit sich selbst zusammenzuleben, das heißt sich in jenem stillen Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu befinden, welches wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich als Denken bezeichnen. Obwohl sie allem Philosophieren zugrunde liegt, ist diese Art des Denkens nicht technisch und handelt nicht von theoretischen Fragen. Die Trennungslinie zwischen denen, die denken wollen und deshalb für sich selbst urteilen müssen, und denen, die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung. In dieser Hinsicht kann uns der totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten Gesellschaft während des Hitlerregimes lehren, dass es sich bei denen, auf die unter solchen Umständen Verlass ist, nicht um jene handelt, denen Werte lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und Maßstäben festhalten; man weiß jetzt, dass sich all dies über Nacht ändern kann, und was davon übrig bleibt, ist die Gewohnheit, an irgend etwas festzuhalten. Viel verlässlicher werden die Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa weil Skeptizismus gut und Zweifel heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Am allerbesten werden jene sein, die wenigstens eins genau wissen: dass wir, solange wir leben, dazu verdammt sind, mit uns selbst zusammenzuleben, was immer auch geschehen mag ...

Hannah Arendt: “Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur”
München, Piper, 2018


Die Frage selbst bedarf wohl keiner Erhellung dazu, beantwortet werden zu können. Jedermann muß sich ja wohl selber sagen, daß es nicht zu verantworten ist.
Was erhellt zu werden bedarf, ist daher, daß, was der Staat getan hat und tut, bedeutet, Christentum, wo möglich, unmöglich zu machen; und das kann ganz leicht und sehr kurz erhellt werden, denn der tatsächliche Zustand im Lande ist wirklich der, daß das Christentum, das Christentum des Neuen Testaments, nicht nur nicht besteht, sondern, wo möglich, unmöglich gemacht ist.
Nimm an, der Staat setzte 1000 Beamte ein, die mit Familie davon lebten, also pekuniär daran interessiert wären, Christentum zu verhindern: das wäre doch wohl ein Versuch in die Richtung, Christentum, wo möglich, unmöglich zu machen.

Und doch wäre dieser Versuch (der ja das Offenkundige an sich hat, daß er offenkundig stattfände, um Christentum zu verhindern) bei weitem nicht so gefährlich wie das, was tatsächlich geschieht, daß der Staat 1000 Beamte einsetzt, die – mit dem Anspruch, Christentum zu verkünden (eben darin liegt die größere Gefahr im Vergleich damit, ganz offenkundig Christentum verhindern zu wollen) pekuniär daran interessiert sind, daß a) die Menschen sich Christen nennen — je größer die Schafherde, desto besser -, die Bezeichnung Christen annehmen, und daß es b) dabei bleibt, daß sie nicht erfahren, was Christentum in Wahrheit ist.

Gott zu verehren, indem man ihn zum Narren hält, [darin] liegt für mich etwas derart Abscheuliches und Empörendes, daß ich, soweit ich vermag, mit aller Macht bestrebt sein werde, dazu beizutragen, daß dem gewehrt wird, daß die Menge der Menschen offene Augen dafür bekommt, wie es zusammenhängt, und dadurch gehindert wird, schuldig an einem Verbrechen zu werden, an dem eigentlich der Staat und die Pfarrer sie schuldig gemacht haben — denn die Menge der Menschen mag noch so leichtsinnig, noch so sinnenhaft sein, es ist doch zuviel Besseres in ihr, als daß sie Gott auf diese Weise verehren wollte.
Deshalb Licht in die Sache; den Menschen soll deutlich werden, was das Neue Testament unter Christsein versteht, auf daß dann ein jeder wählen kann, ob er Christ sein will, oder ob er es redlich, ehrlich, ohne Vorbehalt nicht sein will; und laut soll es dem ganzen Volk gesagt werden: unendlich viel lieber ist Gott in den Himmeln, daß Du – die Bedingung dafür, daß Du es möglicherweise werden kannst – ehrlich zugibst, daß Du nicht Christ bist und es nicht sein willst, als dieses Ekelerregende: Gott zu verehren, indem man ihn zum Narren hält.

Søren Kierkegaard: Ist es zu verantworten, daß der Staat – der christliche Staat! – Christentum, wo möglich unmöglich macht?
Aus: Søren Kierkegaard: Der Augenblick, Nördlingen, 1988