Hamlet

Wir hatten das im vergangenen Jahr, daß ein Kind seine psychischen Dispositionen auf die Bühne bringt. Eigentlich nicht ungewöhnlich, Kinder tun das, Pubertierende auch, selbst Erwachsene.
Aber, wie groß ist die Bühne, wie zahlreich das Publikum?

Hamlet, der das Problem des möglicherweise ermordeten Vaters auf die Bühne bringt, um indirekt zu den scheinbar Schuldigen zu sprechen. Hamlet, der von seinem Autor ironischerweise auf die Bühne gestellt wird, auf Bühne in Bühne.

Hamlet stellt Theater an, statt direkt zu sprechen.

Das Kind inszeniert, indem es sich als die Welt auf die Bühne stellt, ihr Problem (das mit den Eltern!) als Welt-Problem. Sehet, ich leide, ich will, daß ihr alle leidet. Und sie leiden und klagen sich an! Und sind alle Bühne eigenen Leids. Selbstmitleid im Kollektiv.

Die Welt ist aus den Fugen.
Habt ihr keine persönliche Verantwortung, muß es denn gleich die Welt sein?
Redet mit denen, die Euch das angetan, laßt die Welt in Ruhe.

Hamletsch: Nicht echt und doch wirklich.
Die Angst vor der Angst und ihre Theatralisierung.

Ein Nebel aus Angst, der sich als mikroskopische Bedrohung materialisiert.

To be or not to be.

Melancholia & Hieronymus

Zwei Stiche von Dürer hängen seit ein paar Tagen über meinem Schreibtisch.

Melencolia: Nichts zu handeln, nichts zu werken, nichts zu tun, während die Zeit vergeht wie Wasser auf die Drehschraube der Depression. Die Angst vor der Angst, der Unmut vor dem Mut. Keine Kontemplation. Nichts zu wägen, nicht in der Lage, etwas zu wägen.
Ein magisches Quadrat. Die Gabe der Aufgabe. Die Lösung. Sich lösend aufzugeben.
Nicht aufzugeben.

Der heilige Hieronymus im Gehäus: Ein Tod von guter Arbeit (Rilke). Auch hier läuft das Stundenglas, man wird es in der Stille rinnen hören.
Man kann sich gut einfinden, sich in diesem Bild wohlfühlen.
Der Hund schläft entspannt.
Wäre nicht der Löwe.

Im Zauberberg

Meine derzeitige Lektüre: Der Zauberberg, Thomas Mann. Sonette an Orpheus, R.M. Rilke. Sphären, P. Sloterdijk. Aktuell: Die Welt. NZZ. Steingarts Podcasts. achgut.com. tichyseinblick.de. rki.de. Für und gegen den Aberwitz: Bernd Zeller und Harald Martenstein.

Freiheit heißt das Kapitel, indem Hans Castorp die Diagnose erfährt, die ihm den weiteren, längeren, sieben Jahre dauernden Aufenthalt auf dem Zauberberg gestattet.

Der Blick auf eine Gefahrensituation. Nicht zu wissen, was Richtig oder Falsch wäre. Wie groß die Gefahr überhaupt wäre und wie groß das persönliche Risiko ist.

Wie werden Tote abgerechnet? Sind es normale Tode, Tode, die ohnehin passiert wären, oder solche, die verhindert werden konnten?

Wenn das Sterben plötzlich in den Focus des Alltags gerät, der es sonst nicht sehen will.

Ein unnötiger Tod bedeutet Verlust möglicher Lebens-Zeit.

Ist ein Alltag ohne Arbeit ein Gewinn von Lebens-Zeit?

Castorps Freiheit ist das Sein ohne die tägliche Verantwortbarkeit von Leistung und Können, von Lebenstüchtigkeit und Tradition. Er tauscht dieses Sein, das ihn unten auf der Ebene (Mühen der Ebene!) erwartet, gegen eines, wo Tod alltäglicher aber doch auch außer der Sprache ist. Ein Sein, das west in einem Alltag (scheinbar) heilender Rituale, kontemplativem Dasein zwischen Mahlzeiten. Klösterliches Leben, welches das fehlende Zölibat feiert. Was für ein Leben für ein Individuum, das sich sucht ohne den Schrecken des gewöhnlichen Alltags.

Dasein im Homeoffice. Ein heimlicher Generalstreik? WoGegen? WoFür?
Kaltgestellte Aktivisten neben der Kompetenz-Erscheinung der Ärzte. Ihr Eingeständnis, auch nicht immer zu wissen, was zu tun ist.

Eine Gesellschaft im Zwang zur Ent-Scheidungs-Balance.

Die Kranken, die nun sterben. Die Kranken, die irgendwann in ihrem Bett sterben.

Die, die auf dem Zauberberg leben und die, die dort sterben.

Castorp bleibt dort oben auch der Liebe zu einer Dame wegen. Kein Mädchen aus gutem Hause, das heimgeführt werden will, sondern älter als Castorp, erfahrener, scheinbar unabhängiger. Die Liebe ein Zukunftsversprechen ohnegleichen Reizes.

Die Herausforderung des Virus: eine Übung der Gefahrenlage. Kein Als-Wie, eine Übung ist hier Tun und Vorbereitung auf das Tun. Eine Übung der Gefahrenlage – wie differenziert kann eine moderne Gesellschaft auf Gefahr eingehen.
Differenziert – unter-schiedlich, nicht divers – verschieden.
Unter-Schied, Ent-Scheidung, was zu tun ist, in veränderten Lagen anders.

Homeoffice ist eine Lage, kein Tun.

Osterwasser

Eine Erkenntnis, die in mein Leben eingreift, daß es will, daß ich es ändere.
Es könnte ein Schritt zur Wahrheit sein, täte ich es.
Die Jungfrau der slawischen Mythologie, die am Ostermorgen nach dem Wasser geht, daß ihr Glück und die Liebe bescheren soll. Sie muß es schweigend tun, sonst ists dahin.
Du sollst die anderen mit der Erkenntnis verschonen, die dich möglicherweise änderte, teilst du sie mit, ist sie nicht mehr deine, ist es nicht mehr dein Leben, sondern das der anderen.

Vorstellung

Das Bild des Universums als dem eines Ballons, den wir von außen zu unserem Verständnis betrachten. Das wir inmitten sind, sein Rand sich mit Lichtgeschwindigkeit in das Nichts jenseits von uns entfernt. Können wir mit Lichtgeschwindigkeit denken? Also vielleicht schneller als wir denken können.
Es sendet uns seine Mikrokosmen, fraktal ineinander verschränkte Modellwelten, unverständlicher von Betrachtung zu Betrachtung. Schauen wir wieder von außen auf den Ballon, diesen ewigen(?) Airbag aus Urknall, einem Wunsch nach einem handlichen Spielzeug, im Augenwinkel die dauernden Explosionen. Ein Sog aus Ignoranz treibt sich aus der jeweils nächsten Nachricht des Universums heraus an.

Virologie

Ein Virus ist der Träger von Informationen. Die seines Aufbaus und wie dieser repliziert werden kann. Die erste Information ist selbstbezüglich, die zweite für funktionierende biologische Organismen zerstörerisch, denn der Virus läßt seine Information aus dem Material des Organismus‘ den er befällt, von diesem replizieren.
Ein Organismus entwickelt eine Abwehr oder sirbt.
Es gibt Ideen, die wie ein Virus funktionieren. Sie sind selbstbezüglich und in der Wirkung zerstörerisch. Wie Viren führen sie kein Leben, das einem aus sich selbst rollenden Rad gleicht. Sie dringen ein, replizieren sich und beginnen ihr Werk der Zerstörung. Dem menschlichen Denken sind sie eine Herausforderung; wenn es sich immunisiert, gewinnt es Kraft und Wachstum.
Eine Epidemie tritt auf, wenn virulente Ideen, Gruppen, Gesellschaften befallen. Man bemerkt Immunisierungen, wenn virulente Ideen erneut bemüht werden, aber nur wenige befallen.

Update: Selbstverständlich ist die Varianz der Replikationen von Viren, ihre Mutationsfähigkeit atemberaubend und dahingehend durchaus mit dem Bild Nietzsches von dem Aus sich selbst rollenden Rad vergleichbar. Das muß ich gerechterweise anfügen. Viren repräsentieren ja eine Vorform des Lebens: Den Übergang von der Aminosuppe zur Erbinformation.

Alswie

Menschen in einer Welt; eine Welt, die damit beschäftigt war und ist, ihre Wünsche zu erfüllen. Seit einigen Jahren leben wir mit den kumulierenden Folgen einer wunscherfüllenden Welt und einige stellen fest, nicht alle Wünsche sind erfüllenswert.
Die Realisierung der Simulation diverser Lebensmodelle, in ein Als-Wie-Leben und die Trennung von denen, die sich Als-Wie nicht leisten können oder es nicht wollen oder beides; die ein Leben der verantwortlichen Entscheidungen bevorzugen.
Das AlsWie ist eine Falle. Die Aufrechterhaltung von Illusionen führt zu Opfern. Die Erkenntnis, das eigene Leben der Illusion des AlsWie verschwendet zu haben, kann das Leben ändern oder zu einer grassierend aggressiven Aufrechterhaltung der Illusion führen. Der Zusammenbruch des Own Empire. Wo sonst König-, Weltreiche oder Diktaturen zusammenbrechen, brechen jetzt Own Kingdoms zusammen. Die künstliche Aufrechterhaltung mit Technik, Parasitentum oder (Selbst-)Kannibalismus fristet nur.

Die Abwesenheit der Realität führt zur Kumulation von Dingen ohne Gebrauchswert, dem Aussortieren von Altem, sowie der Ansammlung von Müll.

Ökologismus ist nur eine Flucht vor der Arbeit, die geleistet werden muß, zu sortieren, was wünschenswert bleiben soll.

über Haltung

Haltung ist die angehaltene Form des Lebens. Ausdruck von Bisherigem in angehaltenem Moment. Der Moment ist perdu, wenn aus der Haltung eine Bewegung hervorgeht. Ok, das ist ein Modell, so tragfähig wie ein Atommodell. Ein Atom hat nie eine Haltung.
Eine Haltung zu zeigen ist eine Pose, das Hervorheben einer erstarrten Bewegung aus der Erinnerung.
Haltung wird oft als Reaktion gezeigt, als Muster einer Standardsituation, ein Schauspieler in seiner Rolle, ein Soldat, der die Hacken zusammenschlägt (Sitzen! Machen!, wer sich erinnert).
Haltung zum moralischen Standard zu erheben ist reaktionär im Sinne dessen, daß ein Mensch durch Erfahrung wächst, Haltungen sich ändern.
Indem ich er-fahre, fahre/bewege ich mich von Haltung zu Haltung. ein Film erzählt 24 Haltungen pro Sekunde.

Ich bevorzuge das Inne-Halten: die Annahme einer Haltung bei gleichzeitiger Prüfung derselben.

eine historische Legende

Die Ruten, die fest zusammengebunden werden. Die Fasces. Das Beil, das da heraus ragt. Zusammen das Symbol des italienischen Faschismus.
Die Ruten: ein prügelnder Mob. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wer sich entgegenstellt, den trifft die Axt. Wer sich nicht einbündelt, sich nicht einreiht, stellt sich entgegen.

Ein Anti dazu wäre ein Gegenmob, ein anderes Bündel mit anderer Axt.
Das Andere zu dem Bündel prügelnder Strolche: Der Freie, der der sich selbst in die Hand nimmt, der kein Bündel braucht, um zu sein.

Im Kampf der Bündel; bleibt eines am Ende übrig, sind die anderen geschlagen und ihre versprengten Reste integrativ eingebunden oder ausgemerzt.

Am Ende bleibt Stalin übrig oder Kim oder Maduro. Einer bleibt am Ende übrig, bleibt, beim Kampf der Ruten um die Mitte, denn die Mitte ist Macht. Einer rückt in die Mitte der Ruten, an denen vorbei, die sich darum streiten, der mittelmäßigste von allen.

Nicht der lauteste Schreihals wird am Ende gewinnen, sondern die Mittelmäßige mit der roten Büste auf dem Schreibtisch.

Wer heute dabei ist, kann morgen schon am Rand stehn, plötzlich außerhalb Feind sein. Stalin bleibt übrig und alle Verbündeten sind tot.

Wenn Robespierre auf der Guillotine liegt, jubeln alle, die nie dabeigewesen waren.

Antisemitismus

Im Abendländischen das Jüdische, was ist das? Das durch die Bibel übermittelte, mittelbar durch das Christentum hereingekommene. Der Austausch zwischen jüdischen und abendländischen Gelehrten vom Mittelalter bis hin zur schrittweisen Emanzipation der Juden seit Napoleon war marginal. Trotz Spanien. Es wird eher eine Abstoßung gewesen sein, eine Einkapselung eines Fremdkörpers durch Ignoranz im besten Falle im schlimmsten durch direkten Angriff.

Die jüdischen Gemeinden, besonders in Mitteleuropa, trugen einen längst vollzogenen und in Diasporen geübten Wandel, von der Stammeskultur zum Volk, daß sich einen Gott, zum Gott der sich ein Volk auserwählt, längst hinter sich.

Die mittelalterlichen Deutschen, aus dem Tribalismus in das Christentum gezwungen, befinden sich in einem Zwiespalt. Das neue Gesetz, die neue Ethik, es dauert lange und ist wohl nie ganz vollzogen worden. Der moralische Druck, unter dem Gesetz Gottes zu leben und die Schwierigkeit dazu. Der Neid dessen, der mit seiner Schuld konfrontiert wird, mit einem Hin und Her von Drohung, Strafe und Lässigkeit auf eine höchst aktive und lebendige Kultur, deren inneres Sein hauptsächlich darin bestehen zu scheint, die Balance zwischen Gottes Gesetz und dem schwachen Menschen so zu halten, daß der Mensch dabei mit sich und Gott im Gespräch bleiben kann. Das Judentum hat die individuelle Verantwortung lange vor der europäischen Moderne erfunden, allerdings in der identitären Dreieinigekeit von Gott – Volk – Einzelnem. Sie ist nicht universell wie im Christentum, das seine Aufgabe nie ganz erfüllt hat.

Der tribale Rest, der zu unterdrücken ist, kehrt sich immer wieder hervor. Der Nationalsozialismus ist auch eine Trotzreaktion dem Christentum gegenüber und sah zurecht seinen Hauptfeind in der stillen Güte, die im Anerkennen alles Menschlichen liegt.

Schwindet das, was bisher Raum für individuelle Identität gegeben hat, sei es Heimat oder Nation, finden sich Einzelne in neue identitäre Stämme. Hier gilt die Zusammengehörigkeit mehr, als die Individualität. Die Praktiken der identitären Selbstbehauptung können unter Umständen ebenso aggressiv sein, wie die der territorialen.

Das Talent der Juden zu einer vom Territorium unabhängigen (wenn auch gezwungenermaßen und bis 1948) aber Trotzdem-Existenz als Volk scheint im Auseinanderdriften der Welten bei gleichzeitigem Zusammendrängen zu neuen Kollektivismen umso sonderbarer. Das Judentum, daß trotz Verstreutsein jeden seiner Einzelnen in einem ganz eigenen Spannungsverhältnis zu sich und zu seinem Volk hält. Es ist weder universell, noch völkisch, noch tribal, noch interessenvertreten.

Seine Einzigartigkeit macht auch heute noch den Neid aus. Wo Alle nach Identität streben, werden die beneidet, die sie fast wie von selbst zu besitzen scheinen.