Was fehlt

Die Rede ist seit Wochen von “wir müssen” das, dies und jenes. Es kommt nicht von denen, die ohnehin weiter arbeiten oder deren Existenzen auf dem Spiel stehen. Hier sind die Fragen konkreter. Wie soll ich die Miete bezahlen oder wie halte ich Distanzen ein, wenn ich z. Bsp. gemeinsam mit anderen Schweres zu heben habe. Was wird mit meinem Gewerk, wenn X oder Y nicht mehr lieferbar sind.
Die Weltwirtschaft ist eben keine große Maschine, die man an- und abschalten kann, sondern eher einem sensiblen Ökosystem ähnlich. Etwa ein Corallenriff mit komplex verwobenen Beziehungen, über lange Zeiträume entstanden.
Kapitalismus ist ein verwschwörungstheoretischer Begriff, er behauptet – auf das Riff bezogen – einen Creator, oder gar eine Gruppe von Raubfischen, die die Schönheit des Riffs allein der fetten Fische wegen schafft.
Und man glaubt, sowie man das Riff creiert hat, kann man es zum Leben erwecken (anschalten), indem man die Strömung wieder fließen läßt.
Aber die Nahrungsketten sind unterbrochen worden und Totes treibt im Riff.
Es wird sich vielleicht wieder erholen, die Wirtschaft der Länder, Kulturräume, der Welt wird wieder; Menschen werden wieder wirtschaften.
Es gibt Bücher, die aufzählen, was es nicht mehr gibt. Die klassische Post, die Bahnsteigkarte, das schöne Samstagabendfernsehen für die ganze Familie, die naive Freude am technischen Fortschritt.
Dinge, die evolutionär verschwanden, Ersatz gab es irgendwie.
Es werden nun Dinge ersatzlos verschwinden und nicht alles wird zu recht verschwunden sein.
Die Ideen zum Wiederaufbau gehen davon aus, daß man daß Riff einfach wieder flutet, die Maschine einfach wieder anstellt, die Wirtschaft hochfährt. Als wäre da ein Schalter. Aber ein Schalter, gäbe es ihn denn, wäre Teil des Ganzen; nein, er wäre das Ganze selbst.

Kulturschaffende?

Eine Kultur schaffen die, die den Boden bearbeiten, die, die die Werkzeuge und Maschinen herstellen, die die Verteilung organisieren, die die bauen, die eine geistige Beziehung zu den Beziehungen herstellen.
Ägypten – ein Modell. Der durch den Schlamm watende Bauer, der Pharao, dessen Macht und Aufgabe das Anlegen von Vorräten aus den fetten für die mageren Jahre ist. Die Anmut und Schönheit der Reliefs im Stein, bis heute einmalig. Kultur ist das Einmalige der Organisation einer Gesellschaft. Vom Gröbsten zum Feinsten. Warum eine Kultur sich so oder so ausdrückt, so oder so ist, wir können es leidlich nach-vollziehen. Hinterher. Wie es sich gerade vollzieht, ist ein Geheimnis.
Daß die, deren Arbeit von den anderen abhängt, die Kultur für sich in Anspruch nehmen, als wären sie die Schaffenden, sie den anderen wegnehmen was deren Arbeit in der Kultur ist, damit spalten, wäre anmaßend, wenn es bewußt geschähe.
Es ist aber wahrscheinlich so, daß sie nichts von der Arbeit wissen, sie sind von allen Konsumenten die unwissendsten.

America

Die Deutschen und America. Der Reeducatete Pennäler, der niemals aus den Flegeljahren gekommen ist. Ein Land im Wehr-Ersatz-Dienst-Modus den Amerikanern, der NATO gegenüber.
Der Lausbub kritisiert wie wild die rethorische Begleitmusik des amerikanischen Präsidenten, übersieht Wirkung und Werke und rennt damit in jede Dummenfalle, projiziert nur die eigene Blindheit.
Augenhöhe ergibt sich zwischen Wehrhaften, auch bei unterschiedlicher Stärke.
Die Gefahr, die Begegnung dieser, das Training der Begegnung: ein Schritt in die Wehrhaftigkeit.
Freiheit & Demokratie unter der Bedingung der Verantwortung.
Die dumm-wohlfeile Kritik dahin wo sie hingehört – an die Peripherie.

Hamlet

Wir hatten das im vergangenen Jahr, daß ein Kind seine psychischen Dispositionen auf die Bühne bringt. Eigentlich nicht ungewöhnlich, Kinder tun das, Pubertierende auch, selbst Erwachsene.
Aber, wie groß ist die Bühne, wie zahlreich das Publikum?

Hamlet, der das Problem des möglicherweise ermordeten Vaters auf die Bühne bringt, um indirekt zu den scheinbar Schuldigen zu sprechen. Hamlet, der von seinem Autor ironischerweise auf die Bühne gestellt wird, auf Bühne in Bühne.

Hamlet stellt Theater an, statt direkt zu sprechen.

Das Kind inszeniert, indem es sich als die Welt auf die Bühne stellt, ihr Problem (das mit den Eltern!) als Welt-Problem. Sehet, ich leide, ich will, daß ihr alle leidet. Und sie leiden und klagen sich an! Und sind alle Bühne eigenen Leids. Selbstmitleid im Kollektiv.

Die Welt ist aus den Fugen.
Habt ihr keine persönliche Verantwortung, muß es denn gleich die Welt sein?
Redet mit denen, die Euch das angetan, laßt die Welt in Ruhe.

Hamletsch: Nicht echt und doch wirklich.
Die Angst vor der Angst und ihre Theatralisierung.

Ein Nebel aus Angst, der sich als mikroskopische Bedrohung materialisiert.

To be or not to be.

Melancholia & Hieronymus

Zwei Stiche von Dürer hängen seit ein paar Tagen über meinem Schreibtisch.

Melencolia: Nichts zu handeln, nichts zu werken, nichts zu tun, während die Zeit vergeht wie Wasser auf die Drehschraube der Depression. Die Angst vor der Angst, der Unmut vor dem Mut. Keine Kontemplation. Nichts zu wägen, nicht in der Lage, etwas zu wägen.
Ein magisches Quadrat. Die Gabe der Aufgabe. Die Lösung. Sich lösend aufzugeben.
Nicht aufzugeben.

Der heilige Hieronymus im Gehäus: Ein Tod von guter Arbeit (Rilke). Auch hier läuft das Stundenglas, man wird es in der Stille rinnen hören.
Man kann sich gut einfinden, sich in diesem Bild wohlfühlen.
Der Hund schläft entspannt.
Wäre nicht der Löwe.

Im Zauberberg

Meine derzeitige Lektüre: Der Zauberberg, Thomas Mann. Sonette an Orpheus, R.M. Rilke. Sphären, P. Sloterdijk. Aktuell: Die Welt. NZZ. Steingarts Podcasts. achgut.com. tichyseinblick.de. rki.de. Für und gegen den Aberwitz: Bernd Zeller und Harald Martenstein.

Freiheit heißt das Kapitel, indem Hans Castorp die Diagnose erfährt, die ihm den weiteren, längeren, sieben Jahre dauernden Aufenthalt auf dem Zauberberg gestattet.

Der Blick auf eine Gefahrensituation. Nicht zu wissen, was Richtig oder Falsch wäre. Wie groß die Gefahr überhaupt wäre und wie groß das persönliche Risiko ist.

Wie werden Tote abgerechnet? Sind es normale Tode, Tode, die ohnehin passiert wären, oder solche, die verhindert werden konnten?

Wenn das Sterben plötzlich in den Focus des Alltags gerät, der es sonst nicht sehen will.

Ein unnötiger Tod bedeutet Verlust möglicher Lebens-Zeit.

Ist ein Alltag ohne Arbeit ein Gewinn von Lebens-Zeit?

Castorps Freiheit ist das Sein ohne die tägliche Verantwortbarkeit von Leistung und Können, von Lebenstüchtigkeit und Tradition. Er tauscht dieses Sein, das ihn unten auf der Ebene (Mühen der Ebene!) erwartet, gegen eines, wo Tod alltäglicher aber doch auch außer der Sprache ist. Ein Sein, das west in einem Alltag (scheinbar) heilender Rituale, kontemplativem Dasein zwischen Mahlzeiten. Klösterliches Leben, welches das fehlende Zölibat feiert. Was für ein Leben für ein Individuum, das sich sucht ohne den Schrecken des gewöhnlichen Alltags.

Dasein im Homeoffice. Ein heimlicher Generalstreik? WoGegen? WoFür?
Kaltgestellte Aktivisten neben der Kompetenz-Erscheinung der Ärzte. Ihr Eingeständnis, auch nicht immer zu wissen, was zu tun ist.

Eine Gesellschaft im Zwang zur Ent-Scheidungs-Balance.

Die Kranken, die nun sterben. Die Kranken, die irgendwann in ihrem Bett sterben.

Die, die auf dem Zauberberg leben und die, die dort sterben.

Castorp bleibt dort oben auch der Liebe zu einer Dame wegen. Kein Mädchen aus gutem Hause, das heimgeführt werden will, sondern älter als Castorp, erfahrener, scheinbar unabhängiger. Die Liebe ein Zukunftsversprechen ohnegleichen Reizes.

Die Herausforderung des Virus: eine Übung der Gefahrenlage. Kein Als-Wie, eine Übung ist hier Tun und Vorbereitung auf das Tun. Eine Übung der Gefahrenlage – wie differenziert kann eine moderne Gesellschaft auf Gefahr eingehen.
Differenziert – unter-schiedlich, nicht divers – verschieden.
Unter-Schied, Ent-Scheidung, was zu tun ist, in veränderten Lagen anders.

Homeoffice ist eine Lage, kein Tun.

Osterwasser

Eine Erkenntnis, die in mein Leben eingreift, daß es will, daß ich es ändere.
Es könnte ein Schritt zur Wahrheit sein, täte ich es.
Die Jungfrau der slawischen Mythologie, die am Ostermorgen nach dem Wasser geht, daß ihr Glück und die Liebe bescheren soll. Sie muß es schweigend tun, sonst ists dahin.
Du sollst die anderen mit der Erkenntnis verschonen, die dich möglicherweise änderte, teilst du sie mit, ist sie nicht mehr deine, ist es nicht mehr dein Leben, sondern das der anderen.

Vorstellung

Das Bild des Universums als dem eines Ballons, den wir von außen zu unserem Verständnis betrachten. Das wir inmitten sind, sein Rand sich mit Lichtgeschwindigkeit in das Nichts jenseits von uns entfernt. Können wir mit Lichtgeschwindigkeit denken? Also vielleicht schneller als wir denken können.
Es sendet uns seine Mikrokosmen, fraktal ineinander verschränkte Modellwelten, unverständlicher von Betrachtung zu Betrachtung. Schauen wir wieder von außen auf den Ballon, diesen ewigen(?) Airbag aus Urknall, einem Wunsch nach einem handlichen Spielzeug, im Augenwinkel die dauernden Explosionen. Ein Sog aus Ignoranz treibt sich aus der jeweils nächsten Nachricht des Universums heraus an.

Virologie

Ein Virus ist der Träger von Informationen. Die seines Aufbaus und wie dieser repliziert werden kann. Die erste Information ist selbstbezüglich, die zweite für funktionierende biologische Organismen zerstörerisch, denn der Virus läßt seine Information aus dem Material des Organismus’ den er befällt, von diesem replizieren.
Ein Organismus entwickelt eine Abwehr oder sirbt.
Es gibt Ideen, die wie ein Virus funktionieren. Sie sind selbstbezüglich und in der Wirkung zerstörerisch. Wie Viren führen sie kein Leben, das einem aus sich selbst rollenden Rad gleicht. Sie dringen ein, replizieren sich und beginnen ihr Werk der Zerstörung. Dem menschlichen Denken sind sie eine Herausforderung; wenn es sich immunisiert, gewinnt es Kraft und Wachstum.
Eine Epidemie tritt auf, wenn virulente Ideen, Gruppen, Gesellschaften befallen. Man bemerkt Immunisierungen, wenn virulente Ideen erneut bemüht werden, aber nur wenige befallen.

Update: Selbstverständlich ist die Varianz der Replikationen von Viren, ihre Mutationsfähigkeit atemberaubend und dahingehend durchaus mit dem Bild Nietzsches von dem Aus sich selbst rollenden Rad vergleichbar. Das muß ich gerechterweise anfügen. Viren repräsentieren ja eine Vorform des Lebens: Den Übergang von der Aminosuppe zur Erbinformation.