Im Abendländischen das Jüdische, was ist das? Das durch die Bibel übermittelte, mittelbar durch das Christentum hereingekommene. Der Austausch zwischen jüdischen und abendländischen Gelehrten vom Mittelalter bis hin zur schrittweisen Emanzipation der Juden seit Napoleon war marginal. Trotz Spanien. Es wird eher eine Abstoßung gewesen sein, eine Einkapselung eines Fremdkörpers durch Ignoranz im besten Falle im schlimmsten durch direkten Angriff.
Die jüdischen Gemeinden, besonders in Mitteleuropa, trugen einen längst vollzogenen und in Diasporen geübten Wandel, von der Stammeskultur zum Volk, daß sich einen Gott, zum Gott der sich ein Volk auserwählt, längst hinter sich.
Die mittelalterlichen Deutschen, aus dem Tribalismus in das Christentum gezwungen, befinden sich in einem Zwiespalt. Das neue Gesetz, die neue Ethik, es dauert lange und ist wohl nie ganz vollzogen worden. Der moralische Druck, unter dem Gesetz Gottes zu leben und die Schwierigkeit dazu. Der Neid dessen, der mit seiner Schuld konfrontiert wird, mit einem Hin und Her von Drohung, Strafe und Lässigkeit auf eine höchst aktive und lebendige Kultur, deren inneres Sein hauptsächlich darin bestehen zu scheint, die Balance zwischen Gottes Gesetz und dem schwachen Menschen so zu halten, daß der Mensch dabei mit sich und Gott im Gespräch bleiben kann. Das Judentum hat die individuelle Verantwortung lange vor der europäischen Moderne erfunden, allerdings in der identitären Dreieinigekeit von Gott – Volk – Einzelnem. Sie ist nicht universell wie im Christentum, das seine Aufgabe nie ganz erfüllt hat.
Der tribale Rest, der zu unterdrücken ist, kehrt sich immer wieder hervor. Der Nationalsozialismus ist auch eine Trotzreaktion dem Christentum gegenüber und sah zurecht seinen Hauptfeind in der stillen Güte, die im Anerkennen alles Menschlichen liegt.
Schwindet das, was bisher Raum für individuelle Identität gegeben hat, sei es Heimat oder Nation, finden sich Einzelne in neue identitäre Stämme. Hier gilt die Zusammengehörigkeit mehr, als die Individualität. Die Praktiken der identitären Selbstbehauptung können unter Umständen ebenso aggressiv sein, wie die der territorialen.
Das Talent der Juden zu einer vom Territorium unabhängigen (wenn auch gezwungenermaßen und bis 1948) aber Trotzdem-Existenz als Volk scheint im Auseinanderdriften der Welten bei gleichzeitigem Zusammendrängen zu neuen Kollektivismen umso sonderbarer. Das Judentum, daß trotz Verstreutsein jeden seiner Einzelnen in einem ganz eigenen Spannungsverhältnis zu sich und zu seinem Volk hält. Es ist weder universell, noch völkisch, noch tribal, noch interessenvertreten.
Seine Einzigartigkeit macht auch heute noch den Neid aus. Wo Alle nach Identität streben, werden die beneidet, die sie fast wie von selbst zu besitzen scheinen.